Satirical obituary for Walther Nernst written by Lotte Warburg using her pseudonym Züs Colonna

Source: Museum der Göttinger Chemie, Museumsbrief Nr. 19 (2000); based on a manuscript (typewriter) which was found in the estate of the deceased Gertrud von Wartenberg (1886 - 1971, sister of Lotte Warburg) and which had been donated to the museum by her daughter Elisabeth Thalgott (died 1998/1999?).

A slightly different, edited version appeared in (pp. 198 - 204):
Heidy Margrit Müller (editor). "Etwas für die Phantasie". Heinrich Wölfflins Briefwechsel mit "Züs Colonna". Mit Erinnerungen und Erzählprosa von Lotte Warburg. Iudicium Verlag, München, 1997, 251 pp.


Walther Nernst

Von Züs Colonna [pseudonym of Lotte Warburg]

Einer der grössten Naturwissenschaftler aus der Kaiserzeit ist gestorben, eines der letzten & stärksten Originale in der deutschen Gelehrtenwelt. Nernst gehört einem Kreise von Mathematikern, Physikern, & Chemikern an, wie die Berliner Universität sie vielleicht noch nie gesehen hatte. Einstein, Warburg, van't Hoff, Emil Fischer - um nur einige Namen zu nennen. An seinem 50. Geburtstag [1914] bedrängte er mich seinen Nachruf zu schreiben, & er geriet darüber in solche Aufregung & Ungeduld, dass ich ihm vorschlug es zu machen wie "der lebende Leichnam" von Tolstoi, der damals in Berlin grosses Aufsehen erregte, & solange zu verschwinden, bis sein Nekrolog erschienen sei. Es böte sich dann bei seiner Rückkehr - in Anbetracht seiner Passion für andere Berufe - gleich eine gute Gelegenheit um zu satteln, eine Chance, die die meisten Gelehrten in diesem Alter verpassten, zu ihrem & der Welt grossem Schaden und Kummer. "Ich würde Sie aber zuerst chemisch reinigen", sagte ein frecher Student der Chemie, denn die Studenten erlaubten sich ihm gegenüber ausserhalb des Laboratoriums mehr als sonst gegen die "Bonzen" üblich war, vielleicht weil sie ihn zu oft in flagranti überrascht - was die menschliche Schwäche anlangt.

Seinen wissenschaftlichen Ruhm zu verkünden, muss ich seinen Fachgenossen überlassen, & er hat immer betont, dass er auf diesen Teil seines Nachrufs nicht den mindesten Wert legt, was auch wahr sein kann, denn er war wohl ehrgeizig, aber kein Streber. In Ermangelung eines Urteils habe ich erklärt, ab und zu einfliessen zu lassen "der berühmte Gelehrte", was ich hiermit tue. Was das Lob seiner Collegen anlangt, kann ich dessen sicher sein, denn sie sind nie eifriger dabei, als wenn es gilt Lorbeerkränze über einem Grab zu häufen, wobei es manchmal geschieht, dass sie einen Lebenden mit ersticken - aber das passiert nicht immer. Ich habe versprochen den Nachruf zu schreiben ohne die üblichen Lügen. Nernst hatte das Glück in eine Zeit hinein geboren zu werden, in der es wichtiger war, ein Original als ein Charakter zu sein, in eine Welt, der der Erfolg alles war: Ziel, Maassstab - Glaube. In der die Ethik immer mehr Sache der Philosophen wurde. Nernsts berüchtigte Kunst, mit allen Problemen des Lebens fertig zu werden, drückte sich in seinem Lieblingssatz aus. "Es gibt heute keine technischen Schwierigkeiten mehr". der allen cynischen Übermut einer von unerhörten wissenschaftlichen & technischen Erfolgen hochgeworfenen Generation enthält, & der vielleicht auch die verächtliche Haltung der Männer der Wissenschaft beim Ausbruch der letzten Revolution erklärte. Es bestanden auch in diesem Augenblick keine "technischen Schwierigkeiten", unter einem neuen Régime alles abzuschwören, an was man geglaubt, in den Staub treten zu lassen, was man als anbetungswürdig verehrt, im Sinnenrausch des äussersten Fortschritts, in der Zügellosigkeit eines erbarmungswürdigen Individualismus. Tauchte nicht immer hinter allem die unersättliche Frage auf: Was habe  i c h  davon ?

Zu einer imposanten Persönlichkeit, wie man sie am Hof Wilhelm II. gerne sah, fehlte Nernst ausser ein paar anderen wesentlichen Merkmalen einfach das Längenmass. (Es gelang ihm später mit mehr Erfolg den Thee bei Eberth zu trinken, den die Tochter Liebermanns dort einschenkte) Er war kurz & dick, hatte runde Pausbacken, eine kurze Stupsnase & ausgesprochene Geniesserlippen, kleine, listige Augen & eine sanfte, vorsichtig tastende Stimme, die immer gleich einschmeichelnd & treuherzig blieb, sei es um den Studenten die Grundlagen der physikalischen Chemie auseinanderzusetzen, Untergebenen Versprechungen zu machen, die er nur selten hielt, oder schönen Frauen seine Freundschaft anzubieten, worunter er alles Mögliche verstand.

Dieser weichen, unsicheren Stimme, die über die harte & leidenschaftliche Zielsicherheit seines Wesens täuschte, verdankte er zum grossen Teil seine menschlichen Erfolge.

Der Spitzname Kambyses, den er zeitlebens unter Schülern & Collegen behalten hat, enthielt nicht die mindeste Anspielung auf seinen Charakter. Er hat ihn lediglich einer kleinen Verwechslung zu danken, die ihm in angeheiterter Stimmung auf einem Kneipabend in Göttingen als junger Professor unterlief, wo er einem Studenten, der ihm Wein einschenkte, mit den Worten dankte: "Sie sind jetzt mein Kambyses", & Ganymed vor Augen & im Herzen hatte.

Wenn der "berühmte Gelehrte" vielleicht in ganz dunklen Augenblicken nicht ganz frei war von den Anwandlungen von Grausamkeit des Perserkönigs, & sie in Ermangelung von Macht in kleine, feige Intriguen umsetzen musste, - ich habe versprochen ehrlich zu schreiben - so hat er jedenfalls auf einen Traum hin nie jemanden getötet. Er schoss lieber seine giftigen Pfeile auf einen ab, der ihm im Wachen anfing unbequem zu werden, & diese Pfeile durchschwirrten erst einmal die Luft, beunruhigten die Atmosphäre, liessen aufhorchen & umherblicken, dann ritzten sie kaum merklich & plötzlich sassen sie tief im Fleisch. Nernst hat auch nicht wie der König Kambyses am Ende seines Lebens den Verstand verloren, im Gegenteil, er gehört zu den wenigen, grossen Gelehrten, die das dritte Reich noch zur Verfügung hatte, um ihn in der illustrierten Zeitung erscheinen zu lassen: Geheimrath Nernst liest Physik: Damit der weltberühmte Gelehrte in allen Winkeln des Riesenraums verständlich wird, wird der Vortrag von Lautsprechern übertragen, die in verschiedenen Teilen des Hörsaals aufgestellt sind.

Weltmann zu sein in einem Weltreich - Weltruhm zu erlangen, Weltblick - Weltbedeutung, Weltherrschaft - der Grund zu diesen verhängnisvollen Vorstellungen die schliesslich zum Krieg führen mussten, wurde in einer Zeit gelegt, in der die deutschen Gelehrten anfingen Geschäftsleute zu werden & Weltreisende. Trotzdem ist es ihnen nie geglückt, das Weltgeschehen zu beeinflussen, wie so vielen ihrer auswertigen Collegen. - Die Conjunktur riss auch Nernst mit hoch. Die Nernstlampe bildete die Basis zu seinem ansehnlichen Vermögen. Von Rathenau stammt der Ausspruch, man müsste Nernst zum Direktor der A.E.G. machen, natürlich zum "kaufmännischen" - nachher stellte sich allerdings heraus, dass die A.E.G. mit der Lampe [k]eines ihrer besten Geschäfte gemacht hatte. Es war eine elektrische Lampe mit einer sehr langsam wirkenden Zündung, die erst 30-40 Sekunden nach dem Einschalten des Stroms Licht gab. Dies veranlasste den Berliner Volksmund, Zeitgenossen mit langer Leitung "Du oller Nernst" zu betiteln, was Nernst, der anerkanntermassen über eine unerhört grosse, geistige Reaktionsgeschwindigkeit verfügte, nicht wenig verdross. Zu dieser geistigen Reaktionsgeschwindigkeit, die der Neid seiner Collegen war, gesellte sich eine seelische Beweglichkeit, die den Reiz seines Wesens ausmachte. Er schwärmte für die Wissenschaft, für die Grossstadt, für das Landleben, für schöne Literatur, für französischen Champagner & für die Liebe, für Claire Waldorf, für Geld & das Glückspiel, für die junggesellische Freiheit & den häuslichen Herd. Er konnte es fertig bringen am Morgen im Laboratorium zu arbeiten, mittags mit einem ausländischen Gast zu frühstücken, nachmittags Vorlesung zu halten, Tee zu trinken mit einer schönen Frau, nochmals im Laboratorium mit vollkommener Concentration die Arbeit seiner Schüler zu besprechen, nachts einen Freund durch das grossstädtische Berlin zu führen, gegen Morgen noch einen Roman zu lesen, um dann nach einigen Stunden Schlaf unbekümmert & ungeschwächt an seine wissenschaftliche Arbeit zu gehen.

Wenn es den meisten Menschen mit Mühe gelingt eine einzige Rolle im Leben durchzuführen, so spielte Nernst deren ungezählte. In seinem Widerwillen gegen die Regel & die Wiederholung des Alltäglichen, bestand für ihn das Dasein aus einer Folge mehr oder weniger wilder Episoden, in die er sich immer wieder stürzte mit der Vehemenz eines Menschen, dessen Arbeit unter dem Zwang einer gesetzmässigen, kontinuierlichen Entwickelung steht. Und doch - blieb seine einzige Realität die Wissenschaft, denn wenn er aus ihr heraustrat, wurde er ganz & gar unwahrscheinlich, sei es als Kunstkenner, als Intriguant oder als Held. In allen diesen Rollen hat er sich versucht & vielleicht mehr Eifer & Geduld darauf verwendet wie auf die Wissenschaft, in der er allein erfolgreich war. Als Kunstkenner schrieb er eine "wichtige Abhandlung" über den Othello & schlug Hofmannsthal vor, der doch eine schönere Sprache habe als Goethe, sich mit Frank Wedekind zu verbinden & prophezeite dieser Synthese einen zweiten Shakespeare. Bei einer Diskussion über den Faust, der er schweigend gefolgt war, regte sich in ihm plötzlich der Profesorendünkel & man hörte ihn mit einer verächtlichen Geste vor sich hinmurmeln: Ach dieser verbummelte Privatdozent. Über Thomas Manns "Hintertreppenromane" zuckte er nur mitleidig die Achseln & nannte die Ibsenschen Menschen Holzköpfe & Narren, während er doch Helden auf der Bühne verlangte. Helden waren für ihn Menschen, die sich für den Fortschritt opferten, für die Maschine, wie Flieger, Techniker & Industrieunternehmer. Von Gerhard Hauptmann hielt er nicht viel, bis auf die Schmetterlingsschlacht, die er reizend fand. Als er Hauptmann bei einem Tee seine Bewunderung darüber ausdrückte, gab es eine wirkliche Schmetterlingsschlacht. Auf einem Fest, das er zu Ehren von Hofmannsthal veranstaltete, suchte er in einer langen Tischrede seinem Gast im "Abenteurer und die Sängerin" ein Plagiat nachzuweisen, aus dem "grössten Memoirenwerk aller Zeiten" Casanova, das er besser kannte, als alle Dichter, die daraus geschöpft. Aber er hatte die Fussnote auf der ersten Seite übersehen, in der Hofmannsthal seine Quelle nennt.

In der Wissenschaft, konnte Nernst wohl erklären, kommt es nicht auf den Einzelnen an. Die Wissenschaft ist ein Schneeball, der einen Berg herunterrollt, & auf seinem Weg immer mehr Schnee sammelt, bis er zu einer Lawine anschwillt. Aber in der Kunst ist alles an den Einzelnen gebunden. Der Hamlet hätte nicht ohne Shakespeare, der Faust nicht ohne Goethe geschrieben werden können, aber wehe, wenn er selbst dieser namenlose Einzelne hätte sein sollen, der den Schneeball zum Anschwellen gebracht! Dann verlangte er für seinen Wärmesatz den Ruhm gebieterischer als ihn wohl je Shakespeare für seinen Hamlet gefordert haben würde. In seinem Verhältnis zu Einstein zeigte sich Nernsts Unbekümmertheit zu Zeiten ein "grässliches Original" zu sein. Es war sein Verdienst, dass es möglich wurde durch eine Stiftung der Akademie der Wissenschaften Einstein nach Berlin zu rufen - er ist damals selbst nach Zürich gefahren, um ihn zu überreden. Einstein warnte, lange unentschlossen, man kaufe die Katze im Sack um dann endlich nachzugeben. Aber die Begeisterung für Einstein, von dem er sich wissenschaftlich Anregung ebenso wie freundschaftliche Beziehung versprach, liess sehr bald nach, als dieser seinen eigenen rapiden Aufstieg zu Popularität & Berühmtheit begann. Zu einer Freundschaft zwischen beiden konnte es sowieso nie kommen, denn sie waren im innersten Wesen Fremde. Und jetzt begann Kambyses seine Giftpfeile abzuschiessen: Er tut der Wissenschaft keinen Dienst, konnte man ihn sagen hören, wenn er immerzu herumreist. "Wir" wollen doch, dass er arbeitet. Dafür haben "wir" ihn doch hergeholt. Wenn einer von uns armen Christenmenschen diese Arbeit gemacht hätte, würde kein Mensch darüber reden, das heisst, nicht halb soviel Wesen davon machen, verbessert er sich, auf einen erstaunten Blick einer der Umstehenden. Einfach jüdische Pressepropaganda! Es ist überhaupt nichts erwiesen. Die Arbeiten über die Relativitätstheorie sind talentvolle Sachen von einem sehr tüchtigen Physiker, weiter nichts! Als einer Einsteins fast mystische Popularität erwähnt, sagt Nernst einige Minuten später: Wissenschaft, Sie haben ganz recht, das ist garkeine Wissenschaft mehr, das ist wie Sie sehr zutreffend sagen, einfach Mystik! - Und schliesslich wurde Kambyses immer ausgelassener - wenn er bei Laune war, konnte er unglaublich ausgelassen sein - & er sagte: Ich mache es gerade umgekehrt wie meine Frau, die im Haushalt immer alles selbst tun will. Wenn ich eine lästige Arbeit habe, gebe ich sie zuerst an einen Praktikanten, wenn der nicht damit fertig wird, an meinen Assistenten, & wenn der sie nicht machen kann - & er sieht sich triumphierend & höhnisch im Kreise um - an Einstein.

Der grosse Mann in der Nähe liess ihn nicht zur Ruhe kommen. Er hat ihn auch cynisch zum halben Nobelpreis vorgeschlagen.

Nernst machte kein Hehl daraus, dass er der beste Mensch von der Welt sein konnte, wenn er sich davon einen persönlichen Nutzen versprach, aber rücksichtslos sein Ziel verfolgte, wenn er sicher war, sich dabei nicht zu schaden. "Wenn nur alle Teile zufrieden sind". lautete seine gefürchtete Moral. Er war dabei vielleicht ungefährlicher, weil ehrlicher als manche seiner Collegen, die hinter dem Schutz der Weltferne ein heimtückisches Wesen verbargen. Er hielt es nicht für nötig in jener Zeit, als Ritter des Pour le mérite, Nobelpreisträger & Besitzer der goldenen Medaille für Kunst & Wissenschaft & Mitglied unzähliger Akademien den üblichen Ehrenmann vorzutäuschen. Vielleicht hinderte ihn auch sein angeborener Optimismus in der Beurteilung seiner Mitmenschen daran, von deren Einfalt er überzeugt war. Die Überschätzung der Leistung, die schon damals allgemein in Deutschland war, erzeugte eine Atmosphäre abenteuerlicher Selbstherrlichkeit, in der nur Wenige nüchtern blieben.

Nernst verbrauchte alle ethischen Kräfte, die ihm zur Verfügung standen, in seinem Laboratorium: geistige Ehrlichkeit & Unbestechlichkeit, die zum Suchen nach der wissenschaftlichen Wahrheit unentbehrlich sind. Ausserhalb des Laboratoriums schuf er sich eine Welt nach eigenem Gesetz. Es war nicht immer leicht, neben einem so beweglichen & originellen Chef zu arbeiten, noch viel weniger unter ihm. Nernsts Schüler haben sich ihren Weg allein suchen müssen - er hat ihnen nicht geholfen, aus welchen Gründen hat der "berühmte Gelehrte" nie gesagt.

Von seiner Regierungszeit als Präsident der physikalisch technischen Reichsanstalt in Charlottenburg ist nichts übrig geblieben als das grosse N, mit dem er in dieser kurzen Zeit unumschränkter Herrschaft in den Räumen die einst für Helmholtz gebaut wurden, zu unterzeichnen pflegte, wohinter der "ernst" kaum sichtbar & ganz unglaubwürdig sich verlor. Es war kein Ruhmesblatt in der Geschichte seines Lebens, schnell & flüchtig umgedreht, & nichts darauf geschrieben als eben - das grosse N.

Bei Kriegsausbruch 1914 entdeckte Nernst seine Befähigung zum Helden. Und es bleibt ein unvergesslicher Augenblick als er bei Kranzler, vom Kriegsministerium kommend in tiefgeheimem Auftrag, über den er schreckenerregende, kurze Andeutungen im Flüsterton machte, bei einer Tasse Kaffee plötzlich in die denkwürdigen Worte ausbrach: Die Welt ist aus den Fugen - Schmerz & Gram - dass ich zur Welt sie einzurenken kam! - Die Welt? Aber es wäre in diesem entscheidenden Augenblick pedantisch & für seinen Ehrgeiz als Shakespearekenner kränkend gewesen, ihn beim Citiren zu berichtigen. Er schwälgte in Zerstörungsplänen mit der gleichen Begeisterung wie vorher in Plänen zum Aufbau der wissenschaftlichen Welt. Er konnte nicht schnell genug die Uniform des freiwilligen Automobilkorps anlegen, die ihn vor jeder Verantwortung freimachte, & jeder Verpflichtung gegen sich & seinen bürgerlichen Beruf enthob. Er stolzierte umher wie ein junger Fähnerich, die Hand an der Mütze: So grüsse ich! Und er erzählte, dass das eiserne Kreuz in der Familie Tradition ist; im Siebzigerkrieg hat man es dem schwerverwundeten Grossvater auf das Sterbebett gelegt.

Nernst stimmte ein in das Märchen von der englischen Krämerseele, dem degenerierten Frankreich & den russischen Mordbrennern. Eine Schande, wer jetzt noch in seinem Laboratorium arbeitet für sich & seinen jämmerlichen Ruhm! Was ihn nicht hinderte mit allen Mitteln durch seine Niesbomben die Habersche Gaswolke in Schatten stellen zu wollen.

Die grösste Enttäuschung seines Lebens war, dass sein Name nach dem verlorenen Krieg nicht auf der Auslieferungsliste stand, während er sich schon monatelang als "Vater des Gaskampfs", wie er sich selbst nannte, in ausländischen Verstecken aufhielt, seine Spur verwischend & seine Rolle vorbereitend, in Erwartung seines "grossen Schicksals". "Sie haben grosse Vorbilder, Archimedes & Galiläi", hatte ihm Roethe begeistert zugerufen. "Ich stehe hier wie Galiläi", war denn auch der Satz, den er vorhatte dem Welttribunal ins Antlitz zu schleudern, wobei er anscheinend vergass, dass Galiläi damals ein kläglicher & bemittleidenswerter Greis war, der vor dem Holzstoss zitternd, alles abschwor, worum er gekämpft.

Nernst wäre sehr unzufrieden, wenn eins der wichtigsten Kapitel seines Lebens, die Frauen, in seinem Nekrolog verschwiegen würde. Man kann von ihm behaupten, dass er neben der Wissenschaft nichts wirklich ernst nahm, als eben die Frauen, die ihn wieder nicht ernst nahmen. "Das ist unmöglich" sagte einmal ein junger Mann im Laboratorium, dem er eine Aufgabe stellte, & er gab ihm zur Antwort: "Wenn es möglich wäre, würde es mich nicht interessieren, es hat nur Sinn das Unmögliche zu wollen". - Ähnlich hielt er es mit den Frauen, & mit der gleichen Ausdauer, der gleichen wissenschaftlichen Findigkeit & Gründlichkeit, vor allem mit dem gleichen Optimismus, machte er sich an die oft unmöglichen Aufgaben, die ihm sein Herz stellte. Ein Misserfolg bei einer wissenschaftlichen Arbeit konnte ihn nicht halb so erbittern, als die Ungunst einer schönen Frau. Wenn Nernst mit seinen Untergebenen engherzig, vergesslich & unaufrichtig war, so entfaltete er seine Güte in der Familie & im Verkehr mit Frauen. Bei ihnen war er, was er sonst nie war: Selbstlos, freigebig & zuverlässig. In der Chemie, pflegte er zu sagen, freue ich mich jeden Tag über die Schönheit, Folgerichtigkeit & Gesetzmässigkeit, aber die Frauen sind gerade das Gegenteil, von dem allem. Sie gehorchen nicht den einfachsten Naturgesetzen, & deshalb betrachte ich den Verkehr mit ihnen als die einzige wirkliche Erholung - weil sie so ganz ungesetzmässig sind, so ganz unberechenbar, garnicht zu bestimmen - gerade das Gegenteil von meinem Beruf, der Chemie.

Unter dem Schimmer einer aufrichtigen Liebe - er behauptete, seine besten Arbeiten alle unter einem solchen Schimmer gemacht zu haben - hat ihn einmal die Poesie übermannt, & er hat ein Märchen geschrieben, das eines echten Künstlers würdig war.


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Revised 2001-11-08