Die Umschau. Illustrierte Wochenschrift über die Fortschritte in Wissenschaft und Technik. Breidenstein Verlagsgesellschaft, Frankfurt am Main. 43. Jahrgang, Heft 4, 1939-01-22, pp. 88 - 90


Die Forschungen Gustav Tammanns in ihrer Bedeutung für die deutsche Metallkunde

Von Dr. HO. v. Samson-Himmelstjerna

Am 17. Dezember 1938 verstarb der Göttinger Physiko-Chemiker Geheimrat Professor Dr. Gustav Tammann. Mit ihm ist ein deutscher Gelehrter heimgegangen, der von Wissenschaft und Technik als Wegbereiter auf zahlreichen naturwissenschaftlichen Fachgebieten betrauert wird. Zu seinem 75. Geburtstag, am 28. Mai 1936, erhielt Gustav Tammann als letzte große Ehrung vom Führer den Adlerschild des Deutschen Reiches verliehen mit der Widmung: "Dem Altmeister der deutschen Metallurgie". Denn gerade die Metallkunde ist das Gebiet, auf dem Tammann am stärksten bahnbrechend und fördernd gewirkt hat. Das Andenken dieses Mannes kann deshalb nicht besser geehrt werden als durch einen kurzen Rückblick auf einige seiner metallkundlichen Leistungen.

Tammann verließ 1903 seine baltische Heimat, wo er an der damals schon russisch gewordenen, vorher deutschen Universität Dorpat die Leitung des Chemischen Instituts inne gehabt hatte, um dann die neu gegründete Professur für anorganische Chemie in Göttingen anzunehmen. Später, 1907, übernahm er statt dessen das von Nernst gegründete physikalisch-chemische Institut der Universität.

Zur Zeit von Tammanns Uebersiedlung nach Göttingen bestanden über die Konstitution der metallische Legierungen nur erst schwache, meist sehr theoretische Vorstellungen. Die Erkenntnis, daß auch die Metalle kristallisiert seien und nicht, wie man früher angenommen hatte, vorwiegend amorphe Körper, war neu. Früher schon hatte Tammann über die Vorgänge beim Schmelzen und Kristallisieren gearbeitet. Es gelang ihm nun, praktische Wege zur Erforschung der Legierungen zu finden. Er lehrte in einfacher Weise mit Hilfe einer zeitlichen Beobachtung der beim Erstarren auftretenden Wärmetönungen die Art und Zusammensetzung der sich aus der Schmelze ausscheidenden Kristallarten zu bestimmen. Seine Methode der thermischen Analyse gestattet im Verein mit der mikroskopischen Untersuchung von geätzten Schliffproben der erstarrten Legierungen weitgehende Schlüsse auf die Zustandsdiagramme der Zweistoffsysteme zu ziehen. Diese Zustandsdiagramme, deren verbreitete Anwendung auf dem Gebiet der Legierungskunde vorwiegend Tammanns Verdienst ist, geben ein Bild davon, bei welchen Zusammensetzungen und Temperaturen sich einheitliche Kristallarten, wie die reinen Bestandteile oder "intermetallische Verbindungen", d. h. chemische Verbindungen aus nur metallischen Atomen, bilden, oder Mischkristalle, in denen sich Atome zweier Metalle gleichberechtigt in einem Kristallgitter befinden, oder "eutektische" Gemische, in denen zwei getrennt kristallisierende Kristallarten sich gleichzeitig unter gleichbleibender nebeneinander aus der Schmelze ausscheiden, oder ob sich Umwandlungen in den bereits erstarrten Legierungen vollziehen.

Nachdem die Wege gezeigt waren, wurde die systematische Untersuchung der technisch wichtigsten Legierungssysteme von Tammann und seiner weit verbreiteten Schule in Angriff genommen. Die denkbar einfachsten Mittel, die zu den reichsten Ergebnissen führten, können jedem Metallforscher zum Vorbild dienen. Es wurde ein Ofen gebaut, der "Tammann-Ofen", in welchem ein Kohlerohr durch einen Strom geringer Spannung (etwa 6 Volt) und hoher Stromstärke (etwa 1000 Ampere) geheizt wird, darin wurden in "Tammann-Tiegeln" aus hochfeuerfestem Porzellan in Reagenzglasform die Legierungen erschmolzen, der Temperaturverlauf bei der Erstarrung wurde dann mit Hilfe eines Thermoelementes verfolgt. Während die zuerst von Tammann in großen Zügen ausgearbeiteten Hunderte von Zustandsdiagrammen dem Praktiker die wichtigste Grundlage zur technischen Anwendung der Legierungen bieten, gestattet ihre vergleichende Betrachtung Rückschlüsse auf Gesetzmäßigkeiten, die bei der Kombination verschiedener Metalle auftreten. Hierzu gehören die von Tammann aufgestellten Regeln über die Bildung intermetallischer Verbindungen, deren Zusammensetzungen nur in wenigen Fällen die Wertigkeiten der Elemente zeigen, wie wir sie sonst in der anorganischen Chemie kennen.

Nicht minder wichtig als die Kristallisationsbedingungen der Metalle sind ihre mechanischen Eigenschaften. Metalle sind, ähnlich wie amorphe, nicht kristallisierte Körper, z. B. Pech, weitgehend einer plastischen Verformung zugänglich, während dagegen andere kristallisierte Stoffe, wie die meisten Mineralien, spröde sind. Tammann deutet die plastischen Fließvorgänge der Metalle so, daß in den Kristallen bestimmte kristallographische Ebenen, die Gleitebenen, sich gegeneinander verschieben, ohne daß dabei das Kristallgitter zerstört wird.

Erfolgt die plastische Verformung (Walzen, Recken, Stauchen usw.) eines Metalles bei genügend tiefer Temperatur (Kaltverformung), so ändern sich hierbei eine Reihe seiner chemischen, physikalischen und mechanischen Eigenschaften. Die Dichte wird etwas geringer, das elektrochemische Potential verschiebt sich, die elektrische Leitfähigkeit nimmt etwas ab, die farbe ändert sich, ebenso die Beständigkeit gegen chemischen Angriff. Am auffälligsten ist die Zunahme der Festigkeitseigenschaften. Wird ein kaltverformtes Metall auf erhöhte Temperatur gebracht, so gehen die erwähnten Eigenschaftsänderungen wieder zurück ("Erholung von der Kaltbearbeitung"). In seinen zahlreichen Arbeiten auf diesem Gebiet kommt Tammann zum Schluß, daß diese Eigenschaftsänderungen durch Aenderungen im Atom des Metalles bedingt sind. Erst bei erhöhter Temperatur, wenn die Beweglichkeit der Atome genügend groß geworden ist, kann eine Rückwandlung der Eigenschaften stattfinden.

Neben diesen, auf inneren Vorgängen in den Kristallen beruhenden Erscheinungen kann an einem kaltverformten und dann geglühten Metall noch eine andere interessante Beobachtung gemacht werden. Reckt man ein Metall und erhitzt es dann, so wachsen einzelne der Kriställchen, aus denen das Metall besteht, auf Kosten anderer. Tammann bringt die Erklärung für diesen Vorgang der "Rekristallisation": Zwei Kristalle, die sich mit kristallographisch verschieden orientierten Flächen berühren, sind nicht miteinander im Gleichgewicht, sondern diejenige Fläche, die eine dichtere Besetzung mit Atomen aufweist, hat die Fähigkeit, auf Kosten der anderen zu wachsen. Daß die Rekristallisation schließlich zum Stillstand kommt, verursacht nach Tammann die "Zwischensubstanz", d. h. eine Haut von im Metall unlöslichen Beimengungen, die die Kristallkörnchen umhüllen und ihre gegenseitige Berührung unterbinden. Durch die Kaltverformung werden die Häutchen durchbrochen, bei der Temperatur des "Platzwechsels" der Atome, die Tammann nach mehreren verblüffend einfachen Methoden bestimmte, wird die Beweglichkeit der Metallatome so groß, daß eine erneute Rekristallisation stattfinden kann. Es ist Tammann auch gelungen, die Zwischensubstanz sichtbar zu machen, indem er das Metall durch ein Lösungsmittel herauslöste, während die Zwischensubstanz ungelöst und unzerstört zurückblieb.

Mischkristalle bestehen aus einem einheitlichen Metallgitter, in welchem die Atome verschiedener Elemente gleichberechtigt verteilt sind. Im Verlauf der Untersuchungen über die Einwirkung verschiedener chemischer Agenzien auf solche Legierungssysteme, die lückenlos in allen Zusammensetzungen Mischkristalle bilden, z. B. Gold-Silber und Gold-Kupfer, stellte Tammann fest, daß scharf ausgeprägte Grenzen der Zusammensetzung vorhanden sind, bei denen ein chemisches Agens einwirkt, das nur eine der beiden Komponenten anzugreifen vermag. Diese Grenzen liegen bei einfachen Atomverhältnissen, die 1/8 Mol der unangreifbaren Komponente oder ein vielfaches davon betragen. Eine Erklärung für dieses n/8-Gesetz sieht Tammann in der räumlichen Anordnung der Atome. Bei einer gleichmäßigen Verteilung der Atome im Gitter tritt eine Schutzwirkung der unangreifbaren Komponente je nach der Natur des Agens dann ein, wenn die Anzahl ihrer Atome 1/8, 2/8, 4/8 usw. von der Gesamtzahl der Atome beträgt.

Diese Ausführungen können nur einen knappen Ausschnitt von Gustav Tammanns vielseitigen Wirken geben. Sein klassisches Werk, das "Lehrbuch der Metallkunde", glänzt durch die Reichhaltigkeit des dargebotenen Stoffes. Mit Staunen entdeckt aber der Leser, daß der Inhalt dieses Buches zum überwiegenden Teil Tammanns eigene Forschungen oder die seiner Schüler wiedergibt. Wenn heute irgendwo ein metallkundliches Problem angepackt wird, so ist ein Zurückgreifen auf die von Tammann gebotenen Grundlagen unvermeidlich. Die Metallkunde ist aber wieder nur ein Teil des großen Feldes, das der unermüdliche Forscher zur reichen Ernte gebracht hat. Kaum eine Richtung der Chemie blieb von ihm ungestreift - es seien nur die Arbeiten in der physiologischen Chemie aus den ersten Jahren seiner Dorpater Zeit genannt, oder die Arbeiten über Dampfdrücke von Lösungen und Hydraten, über den osmotischen Druck und den "Binnendruck der Lösungen", vor allem dann die zahlreichen Beiträge zur Lehre von den Aggregatzuständen und den heterogenen Gleichgewichten, über Reaktionen zwischen Stoffen in festem Zustand, ferner über Silikate und Gläser, und schließlich über die Gleichgewichte zwischen Metallen und Schlacken, wie sie in hüttenmännischen Prozessen oder zwischen dem flüssigen Erdkern und der Erdkruste auftreten *).

Aber nicht nur den Schöpfer und Gestalter praktischer Wissenschaft verlieren wir in dem Heimgegangenen. Ein großer Teil seiner Schüler steht an seiner Bahre, viele von ihnen in leitender Stellung der deutschen Wissenschaft und Technik. Wer das Glück hatte, unter ihm zu arbeiten, wird sich immer als erstes des väterlichen Freundes erinnern, der nicht nur dem Wissen diente, sondern auch dem deutschen Volke mit Strenge wie mit persönlichem Verständnis lebensnah geschulte Männer schenkte.


*) Wir verdanken Tammann folgende Bücher: Kristallisieren und Schmelzen, 1903; Ueber die Fähigkeit der Elemente miteinander Verbindungen zu bilden, 1906; Ueber die Beziehungen zwischen den inneren Kräften und Eigenschaften der Lösungen, 1907; Lehrbuch d. Metallographie, I. Aufl. 1914, IV. Aufl. (Lehrbuch der Metallkunde) 1932; Aggregatzustände, 1922; Heterogene Gleichgewichte, 1924; Der Glaszustand, 1933.

Tammanns wissenschaftliche Arbeiten erschienen hauptsächlich in folgenden Zeitschriften: Ztschr. f. anorg. u. allgem. Chem., deren Schriftleitung er bis zu seinem Tode führte; Ztschr. f. Elektrochem.; Ztschr. f. Metallkunde; Annalen der Physik; Nachrichten der Gesellschaft der Wissenschaften Göttingen.


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Revised 2005-04-12