Günther Bugge. Walter Nernst. Zum 50. Geburtstag am 25. Juni [1914]. Reclams Universum-Jahrbuch 1914, Nr. 23 (Weltrundschau, Heft 38), pp. 257 - 259


[Photograph (R. Dührkoop) to be added]

Walter Nernst.

Zum 50. Geburtstag am 25. Juni. Von Dr. Günther Bugge.

Die zunehmende Spezialisierung auf allen Wissensgebieten, die ein charakteristisches Kennzeichen der naturwissenschaftlichen Forschung geworden ist, hat dazu geführt, daß sich ganz neue selbständige Zweige der Wissenschaft herausgebildet haben, die früher größeren Forschungsgebieten untergeordnet waren. Die Ursache dieser Erscheinung liegt vor allem in der Unvollkommenheit, die jede Abgrenzung natürlicher Dinge mit sich bringen muß; dann aber auch darin, daß der Zusammenhang zwischen den Naturerscheinungen ein so mannigfaltiger ist, daß ein bestimmter Gegenstand meistens eine Behandlung von verschiedenen Gesichtspunkten aus zuläßt. In keinem Falle dürfte sich wohl die Emanzipation eines Spezialgebietes so berechtigt erwiesen haben wie bei der physikalischen Chemie, jenem Grenzgebiet zwischen der Physik und der Chemie, das sich in den letzten Jahrzehnten zu einer selbständigen Wissenschaft von wachsender Bedeutung entwickelt hat. Anfangs mit Mißtrauen betrachtet, von älteren Vertretern der Chemie befehdet, hat sich diese junge Wissenschaft jetzt allgemeine Anerkennung verschafft; ihre Methoden sind wertvolle Hilfsmittel der eigentlichen Chemie geworden, und ihre theoretischen Erkenntnisse haben der klassischen chemischen Forschung frisches Blut zugeführt.

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Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Walter Nernst im physikalisch-chemischen Institut der Universität Berlin, dessen Leiter er ist.

Zu den Männern, die in erster Linie zum Ausbau der physikalischen Chemie beigetragen haben, gehört Walter Nernst, der bekannte Physikochemiker der Berliner Universität. Er wurde am 25. Juni 1864 in Briesen in Westpreußen geboren, besuchte das Gymnasium in Graudenz und verbrachte seine Lehr- und Wanderjahre in Zürich, Berlin, Graz und Würzburg. Die Dissertation, mit der er sich 1887 den Doktorhut erwarb, behandelte ein rein physikalisches Thema; im selben Jahr begann er sich aber schon dem Gebiet der physikalischen Chemie zuzuwenden, auf dem gerade Forscher wie Ostwald, Arrhenius und van t'Hoff die ersten verheißungsvollen Früchte pflückten. Der Mittelpunkt der physikalisch-chemischen Forschung war damals Leipzig, wo die anregende Persönlichkeit Wilhelm Ostwalds einen Kreis von Schülern aus allen Ländern für die neuen Lehren zu begeistern verstand. So wurde auch für Nernst das Leipziger Physikalisch-Chemische Institut die Stätte, wo er, zunächst als Assistent Ostwalds, dann als Privatdozent, sich die ersten wissenschaftlichen Erfolge holte. Im Jahre 1888 veröffentlichte er eine wichtige Arbeit über die Theorie der Diffusionserscheinungen, auf die schon im nächsten Jahre als Habilitationsschrift eine grundlegende Abhandlung "Über die elektromotorische Wirksamkeit der Ionen" folgte. Diese Leistung des Fünfundzwanzigjährigen war eine wissenschaftliche Großtat, denn sie bedeutete die Lösung eines Problems, das hundert Jahre lang keine völlig befriedigende Aufklärung gefunden hatte: des Problems, auf welche Weise beim galvanischen Element die Umwandlung chemischer Energie in elektrische vor sich geht. Nernst führte den Begriff des "Lösungsdrucks" ein, der die Metalle im Element in Form elektrisch geladener Teilchen (Ionen) in die Lösung "hineintreibt", bis sich ein Gleichgewichtszustand zwischen diesem Lösungsdruck und dem in jeder Lösung vorhandenen "osmotischen Druck" einstellt; er zeigte so, daß die elektromotorische Kraft eines galvanischen Elements der Berechnung zugänglich wird, wenn man das Element als eine Maschine betrachtet, die durch den elektrolytischen Lösungsdruck der Metalle getrieben wird.

Im Jahre 1890 fand Nernst einen neuen Wirkungskreis an der Universität Göttingen, wo er nach einem Jahre zum außerordentlichen, nach drei weiteren Jahren zum ordentlichen Professor ernannt wurde. Er leitete hier das von ihm gegründete neue Institut für physikalische Chemie mit großem Erfolg, bis er im Jahre 1904 einen Ruf an die Universität Berlin erhielt. Seinen ersten Leistungen schlossen sich bald neue an, die von einer gesteigerten wissenschaftlichen Produktivität Zeugnis ablegten. Es würde über den Rahmen dieser Zeilen hinausgehen, diese Arbeiten im einzelnen anzuführen und den weittragenden Einfluß, den sie auf die Theorien der Chemie ausgeübt haben, hier zu würdigen. Um die Vielseitigkeit seines Schaffens zu charakterisieren, seien hier von den zahlreichen Gegenständen, die er mit Erfolg bearbeitet hat, nur erwähnt seine Arbeiten über die gegenseitige Beeinflussung der Löslichkeit von Salzen, über den Gefrierpunkt verdünnter Lösungen, über kapillarelektrische Erscheinungen, über die elektrolytische Zersetzung wässeriger Lösungen, über elektrische Nervenreizung, über den Verbrennungsprozeß in Gasmotoren usw. In letzter Zeit ist es ihm gelungen, durch seine wichtigen Untersuchungen über die Beziehungen zwischen der chemischen Affinität und der Wärme ein Gesetz von fundamentaler Bedeutung aufzufinden, das als "Nernstsches Wärmetheorem" am bekanntesten geworden ist in der negativen Fasung: Es ist unmöglich, eine ideale Kältemaschine zu konstruieren, die einen Körper völlig der Wärme beraubt, d. h. auf den absoluten Nullpunkt (-273°) abkühlt. Die Aufklärungen des Zusammenhangs, der zwischen der chemischen Verwandtschaft der Stoffe und den bei ihren Reaktionen auftretenden "Wärmetönungen" besteht, hat uns in den Stand gesetzt, chemische Gleichgewichte aus thermischen Daten zu berechnen, das heißt die Existenzbedingungen chemischer Verbindungen, die bei beliebigen Reaktionen zu erwarten sind, im voraus mit Hilfe von Angaben über ihren Wärmeinhalt zu formulieren. Mit anderen Worten bedeutet dies: Während die Chemiker früher Nomaden waren, die von den Früchten lebten, welche sie beim mehr oder weniger planlosen Durchstöbern ihres Forschungsgebietes fanden, sind sie jetzt zu Ackerbauern geworden, die systematisch das Land abernten, das sie selbst bestellten und dessen Ertragfähigkeit sie kennen.

Man gerät in Verlegenheit, wenn man auf Nernst die beliebte Einteilung der Hochschulprofessoren in Lehrer und in Forscher anwenden soll; er ist beides in einer Person. Er verfügt - das charakteristische Merkmal großer Männer - über eine solche Fülle von Ideen, daß er unbedenklich von seinem Reichtum an andere verschwenden kann. Es nimmt daher nicht wunder, daß sich um ihn eine "Schule" von Forschern gebildet hat, zu denen die vielversprechendsten Vertreter der jüngeren wissenschaftlichen Generation gehören. Auch das Hauptwerk von Nernst, die jetzt in 7. Auflage vorliegende "Theoretische Chemie", zeugt von dem pädagogischen Geschick des Verfassers; die präzise Form der Darstellung und die originale, stets das Wesentliche treffende Behandlung auch der schwierigsten Probleme machen dieses Buch zu einem "standard-work" der physikalischen Chemie. Dieselben Vorzüge, Klarheit und Übersichtlichkeit, zeichnen auch seine zusammen mit Schönflies verfaßte "Einführung in die mathematische Behandlung der Naturwissenschaft" aus, ein Buch, das in vollendeter Weise die Aufgabe erfüllt, den jüngeren Naturwissenschaftler mit der Differential- und Integralrechnung vertraut zu machen, deren Beherrschung heute für das Verständnis der modernen Physik und Chemie unumgänglich nötig ist. Welcher Wertschätzung sich der Gelehrte auch im Ausland erfreut, geht daraus hervor, daß die argentinische Universität La Plata ihn erst vor kurzem zu sechswöchigen Vorlesungen nach dort berief.

Die mathematische Einkleidung, welche der theoretische Charakter der von Nernst aufgeklärten Probleme bedingt, bringt es mit sich, daß die Ergebnisse seiner Forschungen - von den Kreisen der Wissenschaft abgesehen - in breiteren Schichten nicht die Resonanz gefunden haben, die ihnen ihrer Bedeutung entsprechend gebührt. So kommt es, daß der Name Nernst seine "Popularität" einem sinnfälligeren Erfolg, der Erfindung der "Nernst-Lampe", verdankt. Diese elektrische Glühlampe enthält bekanntlich einen Heizkörper aus Magnesia und anderen Oxyden, die bei erhöhten Temperaturen ein wundervolles, dem Sonnenlicht sehr nahe kommendes Licht ausstrahlen. Da das Magnesiastäbchen bei gewöhnlicher Temperatur den elektischen Heizstrom nicht leitet, wird es durch eine automatische, sich später wieder ausschaltende Heizvorrichtung auf elektrischem Wege angewärmt, bis der mit wachsender Temperatur in verstärktem Maße durchfließende Strom das weitere Erhitzen bis auf Weißglut selbst übernimmt. Man hat die in ihren Einzelheiten so genial konstruierte Nernst-Lampe als das Beleuchtungsmittel der Zukunft angesehen; aber die großen Erwartungen haben sich nicht ganz erfüllt. Zum Teil liegt dies an dem Nachteil, daß der Anzündungsvorgang 20 - 30 Sekunden in Anspruch nimmt, zum Teil daran, daß andere Erfindungen, wie das Auersche Gasglühlicht und die Wolfram-Glühlampe, mit der Nernst-Lampe in empfindlichen Wettbewerb getreten sind.

Es ist nicht nötig, diese Zeilen mit dem herkömmlichen Wunsche zu beschließen, daß dem Gefeierten auch in Zukunft weitere Erfolgen beschieden sein mögen. Das regelmäßige Ansteigen der Kurve, welche das bisherige Lebenswerk von Walter Nernst kennzeichnet, bürgt uns dafür, daß er nicht zu den Forschern gehört, deren schöpferische Fähigkeiten sich mit einer Glanzleistung im frühen Mannesalter verausgaben.


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Revised 2005-12-25