Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte.

73. Versammlung zu Hamburg. 22. - 28. September 1901.

Erster Teil, pp. 83 - 99.


Ueber die Bedeutung elektrischer Methoden für die Chemie.

von

W. Nernst.

In der naturwissenschaftlichen Erkenntniss wie auch in den technischen Anwendungen der Naturkräfte standen im vergangenen Jahrhundert die elektrischen Erscheinungen an erster Stelle; das wunderbare Verhalten der elektrischen Wechselwirkung fesselte den Physiker nicht minder, wie die elektrischen Kräfte der vorwärtsstrebenden Technik immer neue und immer wieder überraschende Hülfsmittel zur Verfügung lieferten.

Insbesondere gilt das auch für Chemie und chemische Technologie; im ganzen verflossenen Jahrhundert, von der Identificirung der Voltaschen Spannungsreihe der Metalle mit ihrer chemischen Verwandtschaft zum Sauerstoff durch Ritter bis zur modernen Auffassung der Ionenreactionen lässt sich der befruchtende Einfluss der Elektricitätslehre auf die chemische Forschung verfolgen, und ebenso haben in neuerer Zeit theils zahlreiche ältere rein chemische Methoden der Technik elektrochemischen weichen müssen, theils sind fast unzugängliche Substanzen durch den galvanischen Strom im Grossen darstellbar geworden. Wenn freilich auch der Siegeslauf der angewandten Elektrochemie bis jetzt nicht derartig rasch und glänzend verlief, wie die Chemiker und vielleicht noch mehr die Elektrotechniker vor einem Decennium es erhofften, so bleibt die Thatsache doch bestehen, dass dies jüngste Kind der Industrie in gesunder Entwicklung sich befindet.

Durch diese einleitenden Bemerkungen möchte ich den Versuch rechtfertigen, an dieser Stelle den Einfluss der Elektricitätslehre auf die chemische Forschung in ihren wichtigsten Zügen zu charakterisiren, um daran einige Ausblicke allgemeinerer Art zu knüpfen.

Ehe ich zum eigentlichen Thema komme, möchte ich auf eine kaum zulässige Deutung der neueren Entwicklung der Elektricitätslehre aufmerksam machen, die ziemlich verbreitet ist und das Verständniss des Folgenden sehr erschweren oder geradezu unmöglich machen würde. Es ist allgemein bekannt, dass die Physik der neuesten Zeit sich sehr eingehend mit den elektrischen Schwingungen beschäftigt hat; theoretische Forschung und experimentelles Geschick haben hier ein ungemein reizvolles und ergiebiges Gebiet der Bethätigung gefunden, worüber ja Herr Lecher, einer der berufensten Mitarbeiter auf diesem Gebiet, am letzten Montag von dieser Stelle aus berichtet hat. Offenbar unter dem Einfluss dieser Arbeiten hat der Glaube Platz gegriffen, dass die sogenannte Fluidumstheorie der Elektricität, die in ihr ein körperliches Agens erblickt, beseitigt sei, und man findet sogar häufig die ganz unmotivirte Behauptung, die Elektricität sei ein Schwingungszustand. Allerdings hat die elektromagnetische Lichttheorie einen in jeder Hinsicht bündigen Beweis dafür geliefert, dass die Erscheinungen des Lichts, die man ja bekanntlich seit Langem auf Wellenbewegungen zurückführt, ihrem Wesen nach elektrische Phänomene sind, oder dass mit anderen Worten ein principieller Unterschied zwischen den Lichtschwingungen und den elektrischen Schwingungen nicht besteht. Damit ist nun in der That die Optik geradeso ein Specialkapitel der Elektricitätslehre geworden, wie es der Magnetismus seit Langem war. Die Frage nach dem Wesen der Elektricität bleibt trotzdem aber im Grossen und Ganzen dieselbe, wie vorher.

Ein Beispiel mag die Sache uns verdeutlichen. Die Physik hat gelehrt, dass die Tonempfindungen sich auf Schwingungen der Luft zurückführen lassen, die Akustik wurde dadurch zu einem Specialgebiete der Hydrodynamik, speciell der Theorie der Schwingungen gasförmiger Substanzen. Wenn Jemand, gestützt auf die Erfolge der Akustik, etwa sagen wollte, die Luft wäre ein Schwingungszustand, so würde man sofort das Unbegründete dieser Behauptung erkennen; und doch hat man in neuester Zeit der Elektricität gegenüber genau den entsprechenden Fehlschluss bisweilen begangen. Ueber das Wesen der Luft selber haben uns bekanntlich hauptsächlich Forschungen rein chemischer Natur Aufschluss gegeben, der Ausbau der Akustik hat dazu nicht eben sonderlich mitgeholfen. Und um gleich das wichtigste Resultat, das ich heute darlegen möchte, hier vorweg zu nehmen, so geht meines Erachtens die eben dargelegte Analogie so weit, dass allem Anschein nach über das Wesen der Elektricität uns Forschungen Auskunft zu geben versprechen, die mit den von der Chemie benutzten Methoden die allergrösste Aehnlichkeit besitzen.

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Wenn in der anschaulichen Sprache der Atomistik die Chemie als Wissenschaft von der Bildung der Molecüle überhaupt aus den Atomen und von ihrem Zerfall in die Atome bezeichnet werden kann, so beschäftigt sich die Elektrochemie mit dem Werden und Vergehen elektrisch geladener Molecüle, die man nach Faraday kurzweg als Ionen bezeichnet. Da nun in zahlreichen chemischen Reactionen die Ionen eine bereits klar erkannte Rolle spielen, und da in vielen anderen ihre Mitwirkung, wenn auch noch nicht sicher, so doch wahrscheinlich ist, so springt die Bedeutung der Elektricitätslehre auch für die reine Chemie, nicht nut für die Elektrochemie, in die Augen; alle elektrischen experimentellen Methoden und alle theoretischen Erwägungen aus der Elektricitätslehre, die auf die Ionen Anwendung finden, sind der Chemie bereits von Nutzen oder können es werden.

Nun ist es eine wichtige Erfahrungsthatsache, dass gerade das Wasser zahlreiche gelöste Stoffe in Ionen zu spalten vermag; dadurch ist dies Lösungsmittel für die Elektrochemie nicht nur, sondern für die Chemie überhaupt von der allergrössten Bedeutung. Es ist übrigens kaum daran zu zweifeln, dass auch die fundamentale Rolle des Wassers im thierischen und pflanzlichen Organismus auf verwandte Ursachen zurückzuführen ist. Wahrscheinlich hängt das eigenartige Verhalten des Wassers mit seiner hohen Dielektricitätsconstante zusammen, welche in der That diesem Lösungsmittel eine ganz besondere Stellung zuertheilt. Jedenfalls ist es von vorn herein klar, dass in den experimentellen Methoden der Elektrochemie die wässrigen Lösungen die vielseitigsten und bequemsten Versuchsobjekte sind.

Wenn wir also nunmehr dazu übergehen wollen, die wichtigsten elektrischen Methoden der Chemie kurz zu charakterisiren, so wissen wir bereits, dass es sich hierbei immer um Ionen handeln wird. Bei der Behandlung dieser Frage ergab sich nun das von vorn herein anschauliche Resultat, dass bei der Untersuchung der Ionen alle Methoden anwendbar sind, die über den Bau der gewöhnlichen elektrisch neutralen Molecüle uns zu unterrichten sich eignen; man kann Moleculargewichtsbestimmungen und Constitutionsbestimmungen an den Ionen genau so ausführen, wie an den gewöhnlichen Molecülen. Dazu aber treten als neu und eigenartig diejenigen Methoden hinzu, welche sich an die elektrische Ladung der Ionen wenden, und dieses sind eben die elektrischen Methoden der Chemie. Ich glaube, dass der vorstehende einfache Satz die vollständige Systematik der elektrochemischen Forschungsmethode enthält.

Wenn wir also z. B. ein Salz in wässriger Lösung untersuchen wollen, so werden wir zunächst durch Anwendung der van't Hoff-Avogadro'schen Regel das Moleculargewicht bestimmen können; hierdurch allein werden wir in vielen Fällen, wie Arrhenius, der Begründer der modernen Anschauung über die elektrolytische Dissociation, zuerst gezeigt hat, über Menge und Art der Ionen, in welche das Salz zerfallen ist, Auskunft erhalten, besonders wenn wir damit das Heranziehen chemischer Analogien verbinden; in den meisten Fällen sind ja, wie Hittorf schon in seinen klassischen Arbeiten nachwies, die chemischen Radicale mit den Ionen identisch, und über die Natur dieser Radicale giebt das allgemeine chemische Verhalten das Salzes in der Regel hinreichenden Aufschluss. Wie schon bemerkt, stehen uns aber auch specifisch elektrische Methoden zur Verfügung, und indem wir einerseits von der Thatsache Gebrauch machen, dass die Ionen unter dem Einfluss elektrischer Kräfte zu wandern vermögen, und dass andererseits die electromotorische Kraft zwischen Metall und der Lösung durch Natur und Menge von Ionen bestimmt wird, gewinnen sowohl Messungen der elektrischen Leitfähigkeit wie solche der elektromotorischen Kraft ihre Bedeutung auch für die rein chemische Forschung.

Dank der Arbeiten von Friedrich Kohlrausch ist die Bestimmung der Leitfähigkeit von Lösungen zu einem hohen Grade von Einfachheit und Sicherheit gebracht worden. In kleines Inductorium, eine Wheatstone'sche Brücke, ein Widerstandskasten, ein Telephon und ein mit Elektroden versehenes Glasgefäss bilden das ganze physikalische Rüstzeug, dessen man zur Bestimmung der Leitfähigkeit bedarf. Einen umfassenden Ueberblick über die Anwendungen dieser Methode für die Chemie ist hier zu geben nicht der Ort; aber an einem Beispiele, das durch die Arbeiten von Ostwald hervorragende Wichtigkeit gewonnen hat, möchte ich wenigstens ihr Wesen veranschaulichen.

Dass in wässriger Lösung die verschiedenen Säuren sehr verschiedene Stärke besitzen, ist eine längst bekannte chemische Thatsache; ihre wissenschaftliche Formulirung gelang jedoch erst in neuerer Zeit mit Hülfe der Ionentheorie und der Lehre von der chemischen Massenwirkung. Alle Säuren liefern nämlich, in Wasser aufgelöst, eine mehr oder minder grosse Menge der positiv geladenen Wasserstoffionen; die allen Säuren gemeinschaftlichen und daher specifisch sauren Reactionen sind nun eben Reactionen des Wasserstoffions. Nach dem Gesetz der chemischen Massenwirkung aber reagirt eine Molecülgattung, gleichgültig ob elektrisch neutral oder geladen, um so energischer, je höher ihre Concentration ist, und somit ergiebt sich einfach, dass eine Säure um so stärker specisich sauer reagirt, je mehr Wasserstoffionen sie enthält. Da man nun mit Hülfe der elektrischen Leitfähigkeit am einfachsten und genauesten die Menge der Wasserstoffionen einer in Wasser gelösten Säure ermitteln kann, so erkennen wir, wie die Messung der elektrischen Leitfähigkeit uns über die Stärke einer Säure und somit über eine wichtige Seite ihres chemischen Verhaltens Aufschluss giebt.

In complicirteren Fällen, besonders bei der Untersuchung der sogenannten complexen Salze, tritt der Leitfähigkeitsmessung die Untersuchung der Ionenwanderung ergänzend an die Seite; indem man die zu untersuchende Lösung elektrolysirt und die mit der Verschiebung der Ionen verbundenen Concentrationsänderungen an den Elektroden bestimmt, lässt sich die Frage entscheiden, ob ein Element oder Radical mit dem Strome oder dem Strome entgegen wandert; in ersterem Falle befindet es sich in einem positiven, im zweiten Falle in einem negativen Ion. Bereits Hittorf zeigte bei seinen grundlegenden Messungen der Ueberführungszahlen, dass auf diesem Wege häufig die Frage leicht entschieden werden kann, ob man ein typisches oder sogenanntes complexes Salz vor sich hat.

Während die Leitfähigkeit einer Lösung durch die Summe der Leitfähigkeiten aller darin vorhandenen Ionen bedingt wird und somit, besonders in complicirten Fällen, in denen eine grössere Anzahl verschiedener Ionen in der Lösung vorhanden ist, die Deutung der Versuchsergebnisse nicht ganz einfach wird, liefert die Bestimmung der elektromotorischen Kraft die Menge von einer ganz bestimmten Ionenart, weil die Spannung der Elektroden ausser von ihrer eigenen Beschaffenheit in wässrigen Lösungen nur noch von der Concentration der Ionenart abhängt, welche die betreffende Elektrode in die Lösung entsendet. Der Apparat, der für die Ausführung dieser Messungen erforderlich ist, bietet in seiner Handhabung ebenfalls, wie bei der Messung der Leitfähigkeit, keine besonderen Schwierigkeiten; ein empfindliches Galvanometer oder Elektrometer, ein Normalelement und dein Widerstandskasten sind in den meisten Fällen zur Ausführung der Messung vollkommen ausreichend.

Bestimmen wir also etwa die elektromotorische Kraft eines Silberdrahtes gegen eine Lösung, so vermag diese Messung uns Aufschluss zu geben über die Menge der Silberionen, die in der Lösung vorhanden sind, und zwar liegt es in der Natur der Formel, welche die elektromotorische Kraft und die Concentration der Silberionen verbindet, dass die procentische Genauigkeit unabhängig von der Menge der in der Lösung vorhandenen Silberionen ist. Man ist daher in der lage, Concentrationen von einer Kleinheit noch relativ sicher zu bestimmen, wie sie wohl auf keinem anderen wege, z. B. auch nicht durch die Hülfsmittel der Spectralanalyse unter den günstigsten Bedingungen, gemessen werden können.

Auch hier muss ich mich darauf beschränken, an einem Beispiele die Anwendbarkeit dieser Methode zu erläutern. Das Wasser ist in reinem Zustand ein fast völliger Nichtleiter der Elektricität; es ist mit anderen Worten nur zu einem äusserst kleinen Bruchtheile in seine Ionen, das Wasserstoffion und das Hydroxylion, zerfallen. Da von diesen Ionenarten das eine für die Säuren, das andere für die Basen typisch ist, so ist das Wasser gleichzeitig saurer und basischer Natur, d. h. es ist gleichzeitig eine schwache Säure und eine schwache Basis. Für zahlreiche chemische Reactionen des Wassers war es nun von Wichtigkeit, die Stärke der sauren und der basischen Functionen des Wassers kennen zu lernen, und es mussten zu diesem Zwecke die sehr kleinen Mengen von Wasserstoffionen bestimmt werden, die in einer neutralen oder besser alkalischen Lösung vorhanden sind. Ostwald und Arrhenius lösten gleichzeitig und unabhängig diese Aufgabe, indem sie die elektromotorische Kraft einer mit Wasserstoff beladenen Platinelektrode, die lediglich von der Concentration der Wasserstoffionen abhängt, bestimmten und daraus die gesuchte ausserordentlich kleine Concentration der Wasserstoffionen ermittelten.

Die bisher besprochenen elektrischen Methoden sind gleichsam Sonden, die der Forscher an chemische Verbindungen anzulegen und mit Hülfe deren er sie so zu sagen abzutasten vermag. Die Elektricität giebt aber auch Mittel an die Hand, durch die man, wie mit einem scharfen Werkzeuge, die chemischen Verbindungen zerschneiden kann; dieses Hülfsmittel ist das erste, das die elektrochemische Forschung erbracht hat, nämlich die Elektrolyse. Vermöge der elektrolysirenden Kraft des galvanischen Stromes ist man ja im Stande, auch die festesten Verbindungen mit Leichtigkeit in ihre einfacheren Bestandtheile aufzulösen.

Der Mechanismus der Elektrolyse ist überaus einfach und durchsichtig; ein Strom, der einen Elektrolyten durchfliesst, führt die positiven Ionen zur einen, die negativen Ionen zur anderen Elektrode, und zwar findet diese Wanderung der Ionen, wie schon oben auseinandergesetzt, unter dem Einfluss des elektrischen Zuges statt, der von den entgegengesetzt geladenen Elektroden auf die Ionen ausgeübt wird. Bei hinreichend starker Ladung der Elektroden, d. h. bei hinreichender elektromotorischer Kraft des elektrolysirenden Stromes, gelangen die Ionen an beiden Elektroden zur Abscheidung; indem sie an die Elektroden ihre elektrische Ladung abgeben, gehen sie in gewöhnliche, d. h. elektrisch neutrale Molecüle über, welche dem elektrischen Zuge nicht mehr unterliegen und demgemäss entweichen können. Der eigentlich primäre Vorgang in der Elektrolyse ist also nichts Anderes, als der Uebergang elektrisch geladener Ionen in elektrisch neutrale Molecülarten, und die Arbeit, welche der Strom bei der Elektrolyse zu leisten hat, besteht also in erster Linie darin, den Ionen ihre elektrischen Ladungen zu entreissen, und zwar gleichzeitig den positiven Ionen ihre positive Elektricität an der einen, den negativen Ionen ihre negative Elektricität an der anderen Elektrode. Diese Arbeit ist nun aber um so grösser, je höher die an den Elektroden wirkende elektromotorische Kraft ist, und da wir letztere bei geeigneter Versuchsanordnung beliebig zu steigern im Stande sind, so erkennen wir, dass kein Ion seine Ladung so stark zu binden vermag, dass wir nicht durch hinreichend starken elektrischen Zug sie den Ionen zu entziehen im Stande wären. Mit Mit Hülfe des Stroms können wir dementsprechend die stärksten chemischen Kräfte überwältigen.

Ich möchte versuchen, das eben Gesagte durch einige Beispiele zu erläutern. Die Ionen können complicirte chemische Radicale sein, aber häufig bestehen sie auch nur aus einem einzigen Element; wenn wir einem solchen Ion die elektrische Ladung entreissen und gleichzeitig dafür Sore tragen, dass das seiner Elektricität beraubte und daher in Freiheit gesetzte Element keine anderweitigen secundären Reactionen ausübt, so vermögen wir durch die Elektrolyse das betreffende Element aus der Verbindung, die wir elektrolysiren, in Freiheit zu setzen. So giebt der galvanische Strom dem Chemiker ein Mittel an die Hand, Elemente in freiem Zustande darzustellen, die auf anderem wege nur äusserst schwierig oder gar nicht isolirt werden könnten. Beim Beginn des verflossenen Jahrhunderts schied bekanntlich Davy die Alkalimetalle aus ihren geschmolzenen Hydroxyden durch den Strom ab; aus wässriger Lösung wäre dies nicht möglich gewesen, weil Wasser ja die abgeschiedenen Metalle sofort angreifen würde; wir sehen also, dass zur erfolgreichen Isolirung der Alkalimetalle ausser einem hinreichend starken Strom auch noch ein wasserfreier Elektrolyt erforderlich war. Vor 15 Jahren gelang es schliesslich Moissan, das Fluor, dessen Reindarstellung bis dahin ein ungelöstes Problem war, ebenfalls auf elektrolytischem Wege in Freiheit zu setzen, und es ist nicht ohne Interesse zu constatiren, dass er hierzu eigentlich im Prinzip genau den gleichen Kunstgriff verwandte, wie Davy. Denn gerade wie die starken positiven Metalle auf das Wasser unter Entwicklung von Wasserstoff einwirken, so zersetzt das stark elektronegative Fluor stürmisch das Wasser unter Sauerstoffentwicklung; die elektrolytische Darstellung des Fluors ging dementsprechend verhältnissmässig glatt vor sich, als Moissan in Gestalt von durch Fluorkalium leitend gemachter reiner Flusssäure einen wasserfreien Elektrolyten benutzte. Elektrolysiren wir ein in Wasser gelöstes Fluorid, so bekommen wir anstatt Fluor an der Anode Sauerstoff, der durch secundäre Einwirkung des Fluors auf das Wasser gebildet wird. Dass die Elektrolyse sich thatsächlich so abspielt, wird übrigens auch dadurch wahrscheinlich gemacht, dass entsprechend dem Befund Moissan's, wonach der von Fluor aus Wasser in Freiheit gesetzte Sauerstoff stark ozonhaltig ist, auch der aus einem Fluorid elektrolytisch entwickelte Sauerstoff relativ grosse Mengen jener Sauerstoffmodification enthält. Bekanntlich gelang es später, die von Davy zuerst elektrochemisch isolirten Alkalimetalle auch rein chemisch darzustellen; ebenso dürfte dieses mit dem Fluor sich ermöglichen lassen, seitdem man weiss, dass dazu lediglich ein hinreichend starkes chemisches Oxydationsmittel unter Ausschluss von Wasser erforderlich ist.

Während bei der Elektrolyse der galvanische Strom chemische Verwandtschaften löst, wird bei dem umgekehrten Phänomen, der galvanischen Stromerzeugung, chemische Energie in elektrische umgesetzt. Auch der Mechanismus dieser Vorgänge ist mit Hülfe der Ionentheorie und der Theorie des osmotischen Drucks in neuerer Zeit, wie ich glaube, klargestellt worden. Die Auflösung des Zinks z. B. in einem galvanischen Element ist im Prinzip ähnlich der Auflösung irgend einer beliebigen Substanz in einem Lösungsmittel; das eigenthümliche, was bei der Auflösung des Zinks noch hinzukommt, besteht lediglich darin, dass hier, wie bei den Metallen überhaupt, nicht elektrisch neutrale Molecüle in Lösung gehen, sondern dass es sich dabei um Ionen handelt. Dadurch aber ist nothwendig mit der Auflösung des Zinks eine elektrische Verschiebung verbunden, die unter geeigneten Versuchsbedingungen als geschlossener galvanischer Strom in Erscheinung tritt.

Aber auch wenn man ohne besondere Vorkehrung Zink oder ein anderes Metall in Säuren löst, ist damit ein elektrischer Vorgang untrennbar verbunden; von dem Zink werden Zinkionen in die Säure entsandt, während gleichzeitig die chemisch und somit auch elektrisch äquivalente Menge von Wasserstoffionen umgekehrt aus der Lösung zum Zink übertritt, um nach Abgabe der Ladung als elektrisch neutraler Wasserstoff zu entweichen. Genau so, wie für die Elektrolyse die Spannungsdifferenz an den Elektroden maassgebend ist, wird auch dieser chemische Process, wie in zahlreichen neueren Arbeiten gezeigt wurde, ausschliesslich durch die elektrische Potentialdifferenz zwischen Metall und Lösung bestimmt.

Der primäre Vorgang bei der Auflösung eines Metalls unter Wasserstoffentwicklung besteht also in der Abgabe der positiven Ladung des Wasserstoffions an das betreffende Metall. Leiten wir etwa Chlor in die Lösung eines Jodids, so wird gewöhnliches Jod in Freiheit gesetzt, und das Chlorion tritt an die Stelle des Jodions; auch hier besteht der chemische Process also wesentlich in einer Dislocation einer elektrischen Ladung, und zwar handelt es sich bei diesem Beispiel um eine negative Ladung. Nach aussen verräth sich, wie es in der Natur dieser Erscheinungen liegt, die elektrische Natur dieser Processe nicht weiter; elektrostatische Ladungen oder galvanische Ströme treten dabei nicht auf. Wohl aber lässt sich die Richtung, in der solche chemische Umsetzungen stattfinden müssen, aus den Ionenpotentialen ableiten.

Schon daraus, dass das Phänomen der Elektrolyse in der Spaltung selbst der festesten chemischen Verbindungen besteht, wird es klar, dass bei chemischen Verbindungen elektrische Kräfte eine wichtige Rolle spielen; im Einzelnen haben wir überdies soeben gesehen, dass bei manchen Processen der primäre Vorgang in einer Dislocation elektrischer Ladungen besteht. Damit tritt denn zugleich die Frage an uns heran, ob nicht etwa die chemischen Kräfte überhaupt elektrischer Natur sind.

Ehe wir darüber Betrachtungen anstellen, in wie weit die Forschung in das äusserst hypothetische Gebiet der Natur der chemischen Affinität zur Zeit vorgedrungen ist, möchte ich kurz noch darauf eingehen, wie die chemische Affinität gemessen werden kann. Wenn zwei Substanzen bei ihrer Berührung in rasche chemische Wechselwirkung zu treten vermögen, so sagt man in der Regel, dass sie eine grosse chemische Affinität besitzen; dies ist einwandfrei, aber keineswegs die Umkehrung dieses Satzes, dass nämlich Substanzen, die sich auch bei innigster Berührung gegen einander indifferent verhalten, keine Affinität besitzen. Der Verlauf eines chemischen Processes ist zwar proportional der wirkenden chemischen Kraft, aber er hängt ausserdem auch noch von der Grösse der Widerstände ab, die im betreffenden Falle zu überwinden sind. Auch bei sehr grosser chemischer Affinität kann die Reactionsgeschwindigkeit verschwindend klein sein, wofür eine Gemenge von Wasserstoff und Sauerstoff ein Beispiel bildet; trotz der grossen Affinität dieser Elemente bleiben sie bei gewöhnlicher Temperatur so gut wie vollkommen passiv, weil der zu überwindende chemische Widerstand sehr gross ist. Genau wie die Intensität eines galvanischen Stromes der wirkenden elektromotorischen Kraft direct und dem entgegenstehenden elektrischen Widerstande indirect proportional ist, so gilt für die rein chemischen Processe ein analoges Gesetz: die Reactionsgeschwindigkeit ist der chemischen Kraft oder der chemischen Affinität direct und dem chemischen Widerstand indirect proportional. In einem galvanischen Element werden beide Gesetze, das Ohm'sche Grundgesetz der elektrischen Ströme und das chemische Grundgesetz des Reactionsverlaufs, identisch, weil hier galvanischer und chemischer Widerstand zusammenfallen, die Reactionsgeschwindigkeit nach Faraday's Gesetz der Stromintensität gleich wird und die Kraft der chemischen Affinität des stromliefernden Processes in dem betrachteten galvanischen Element einfach seine elektromotorische Kraft ist. Ebenso aber, wie das Ohm'sche Gesetz auch auf elektrische Ketten Anwendung findet, in denen keinerlei chemische Processe sich abspielen, wie bei den Dynamomaschinen oder den Thermosäulen, so gilt das analoge chemische Grundgesetz auch bei Reactionen, in denen, wie z. B. bei Verbrennungserscheinungen, das Auftreten galvanischer Ströme nicht nachgewiesen und, wenn es sich lediglich um die Einwirkung zwischen elektrischen Isolatoren handelt, geradezu ausgeschlossen ist. Immerhin weist die grosse Aehnlichkeit der beiden besprochenen Gesetze bereits auf eine Beziehung zwischen chemischem Process und galvanischem Strom oder besser galvanischer Entladung hin.

Aus den vorstehenden Ueberlegungen ersehen wir bereits, dass die Bestimmung der elektromotorischen Kraft eines galvanischen Elements uns gleichzeitig die Grösse der Affinität des betreffenden stromliefernden chemischen Processes liefert. Man kann letztere Grösse aber auch auf zahlreichen anderen Wegen ermitteln; wie nebenbei bemerkt sei, liefert jede Methode, die zur Kenntniss der maximalen Arbeitsleistung einer chemischen Umsetzung oder, wie man es auch ausdrückt, zur Bestimmung der damit verbundenen Aenderung der freien Energie führt, gleichzeitig die chemische Affinität der betreffenden stofflichen Umsetzung. Die Messung der elektromotorischen Kraft ist aber die vielseitigste und genaueste Methode, und wir sehen also, wie auch hier wieder, wo es sich um die Messung einer der wichtigsten chemischen Grössen handelt, eine rein elektrische Methode an der Spitze steht.

Man hat wohl bisweilen geglaubt, dass man sich um die Natur der chemischen Kräfte nicht weiter zu kümmern brauche, wenn man nur wüsste, welche Arbeit sie zu leisten im Stande sind; der naturwissenschaftlichen Methodik würde ein solcher Standpunkt meines Erachtens aber wenig entsprechen. Wenn Jemand eine Maschine, die ihn lebhaft interessirt, in Thätigkeit sieht, so wird er sich von der blossen Mittheilung, dass die Maschine so und so viele Pferdekräfte entwickeln kann, kaum befriedigt fühlen; er wird vielmehr auch über den Mechanismus und die gesammte Wirkungsweise sich zu informiren wünschen, und es wird doch gewiss in jedem Falle der Nachfrage werth sein, ob es sich um ein Mühlrad, eine Wärmemaschine, einen Elektromotor oder dergl. handelt. Genau so ist es gewiss für uns allerdings von hohem Werthe, die Arbeitsfähigkeit und damit die chemische Affinität einer Reaction zu erfahren; die Forschung darf sich aber damit nicht begnügen, sondern muss über die Wirkungsweise und die Natur der jeweiligen treibenden Kräfte Aufschluss zu gewinnen trachten, und sei das Gebiet auch noch so hypothetisch und seien wir von einer befriedigenden Antwort auch noch so weit entfernt.

Historisch wäre über die Frage nach der Natur der chemischen Verwandtschaft etwa Folgendes zu bemerken. Bei der Beschäftigung mit der anorganischen Chemie zeigte sich in der Zusammensetzung zahlreicher chemischer Verbindungen ein deutlicher Dualismus; man konnte die Elemente und Radicale in zwei Kategorien theilen, die positiven und die negativen, und man fand, dass die positiven wie die negativen Radicale je unter einander meistens relativ schwierig reagiren, dass aber ein stark positives mit einem stark negativen Radical sich stets glatt zu einer wohlcharakterisirten chemischen Verbindung vereinigt. Die Erkenntniss dieser Thatsache ist der bleibende Inhalt der elektro-chemischen Theorie von Berzelius; dass der grosse Begründer der analytischen Chemie dies Verhalten der Elemente dadurch zu erklären suchte, dass er die eine Kategorie als in freiem Zustand positiv, die andere als negativ geladen ansah, eine Annahme, die gegen die Elemente der Elektricitätslehre verstösst, ist im Grunde eine unwesentliche Zugabe zu seiner Theorie. Thatsächlich war es Berzelius auch wohl mehr darum zu thun, den von ihm so oft beobachteten Dualismus in den chemischen Verbindungen durch die Analogie mit den beiden Elektricitäten anschaulich zu machen, als eine streng physikalische Erklärung der Wirksamkeit chemischer Kräfte zu liefern.

Nun entdeckte die aufblühende organische Chemie zahllose chemische Verbindungen, bei denen die einseitig dualistische Auffassungsweise vollkommen versagte, und so entstand die, wie man sich kurz ausdrückt, unitarische Theorie der Constitution organischer Verbindungen, d. h. eine Valenztheorie, die sich um jenen Dualismus nicht kümmert.

Gegenwärtig kann man wohl sagen, dass eine rein unitarische Auffassungsweise der chemischen Verbindungen ebenso einseitig wäre, wie die rein dualistische Auffassungsweise von Berzelius; wir müssen eben annehmen, dass bei der Bildung chemischer Verbindungen sowohl einheitlich wirkende Kräfte zur Geltung kommen, wie es z. B. die von Masse zu Masse wirkenden Newton'schen Attractionskräfte sind, als auch Kräfte polarer Natur thätig sind, wofür die elektrischen Kräfte das deutlichste Beispiel liefern.

Der von Berzelius erkannte Dualismus der chemischen Verbindungen lässt sich vom Standpunkte der Ionentheorie sehr einfach folgendermaassen deuten. Diejenigen Elemente oder Radicale, welche aus chemischen Verbindungen als positive Ionen abgespalten werden, bilden die eine Kategorie, diejenigen, welche als negative Ionen auftreten, bilden die andere Kategorie der Elemente und Radicale. Es sind also nicht die freien Elemente oder Radicale elektrisch geladen, wie Berzelius annahm, sondern nach der Vereinigung von positiven und negativen Radicalen unter einander vermag das Molecül unter geeigneten Bedingungen sich in Ionen zu spalten, wobei dann die positiven Radicale positiv, die negativen Radicale negativ elektrisch geladen sind. Diese elektrische Spaltung offenbart sich am deutlichsten durch elektrolytische Leitfähigkeit und die damit verbundene Fähigkeit, unter dem Einfluss eines hinreichend starken elektrischen Zuges sich in die freien Radicale spalten zu lassen, gleichzeitig aber auch, worauf Hittorf zuerst hinwies, in dem leichten chemischen Austausch eines positiven gegen ein anderes positives und eines negativen gegen ein anderes negative Radical, oder, mit anderen Worten, in der glatten Bildung und gegenseitigen Umsetzung von Salzen; Hittorf drückte dies sehr prägnant durch den einfachen Satz aus: "Elektrolyte sind Salze."

Berzelius nahm, wie schon bemerkt, ferner an, dass der Grad der Positivität oder Negativität, wenn ich mich kurz so ausdrücken darf, durch die Stärke der elektrischen Ladung bestimmt sei; seit Faraday weiss man im Gegentheil, dass die elektrische Ladung, die ein einwerthiges Ion oder Radical mit sich führt, ganz unabhängig von der Natur und demgemäss auch von der Stärke dieses Radicals ist. Das äusserst stark positive Kaliumion ist genau so stark elektrisch geladen, wie das sehr schwach positive Silberion, und das Gleiche gilt auch für das äusserst stark negative Fluorion und das sehr schwach negative Jodion. Nicht in der Grösse der Ladung zeigt sich der Grad der Positivität oder Negativität, sondern in der Festigkeit, mit der diese Ladung gebunden wird. Dementsprechend kann, um bei den obigen Beispielen zu bleiben, Jodsilber bereits durch sehr geringe elektromotorische Kräfte in die freien Elemente gespalten werden, während Fluorkalium umgekehrt nur unter dem Einfluss eines starken elektrischen Zuges in die Bestandtheile zerfallen kann.

Der experimentelle Ausdruck der Thatsache, dass die verschiedensten einwerthigen positiven oder negativen Radicale gleich stark elektrisch geladen sind, ist das Faraday'sche elektrolytische Grundgesetz, wonach die gleiche Strommenge aus den verschiedensten Elektrolyten immer chemisch äquivalente Mengen in Freiheit setzt. Da nach Allem, was wir darüber wissen, das erwähnte Gesetz mit grösster Exactheit zutrifft, so kann die Thatsache, dass die verschiedenartigsten einwerthigen Ionen die gleiche Elektricitätsmenge binden, als sicher verbürgt gelten.

Was die mehrwerthigen Ionen anlangt, so findet man, dass die zweiwerthigen Elemente oder Radicale genau doppelt so viel, die dreiwerthigen genau dreimal so viel Elektricität binden, als die einwerthigen u. s. w.

Diese höchst merkwürdigen Thatsachen lassen sich nun ungemein einfach und anschaulich deuten, wie schon Helmholtz in seiner Faraday-Rede (1881) angedeutet hat. Wenn wir an der stofflichen Natur der Elektricität festhalten, wozu man, wie Helmholtz ebenda betonte, vollkommen berechtigt ist - und ich glaube nicht, dass sich seitdem hieran etwas geändert hat -, so sind die Ionen eine Art von chemischer Verbindung zwischen Elementen und Radicalen einerseits und der Elektricität andererseits. Wenn nun ferner, wie wir schon sahen, die verschiedensten Elemente oder Radicale immer sich nur mit einer ganz bestimmten Quantität freier Elektricität oder einem Multiplum davon verbinden, so kann man das am einfachsten durch den Satz ausdrücken: für die Verbindungen zwischen gewöhnlicher Materie und der Elektricität gilt genau das gleiche chemische Grundgesetz, wie für die Verbindungen der gewöhnlichen chemischen Substanzen unter einander, nämlich der constanten und multiplen Proportionen.

Erinnern wir uns, dass vor etwa einem Jahrhundert die Entdeckung jenes chemischen Grundgesetzes Anlass zur Einführung der Atomistik in die exacte Naturwissenschaft gab, und dass bis auf den heutigen Tag dieses Gesetz die sicherste experimentelle Unterlage jeder moleculartheoretischen Betrachtung geblieben ist. Ohne die atomistische Naturauffassung ständen wir diesem fundamentalen Naturgesetz völlig rathlos gegenüber, während es uns vom Standpunkte der Atomistik aus geradezu selbstverständlich erscheint.

Genau so liegt die Sache offenbar, wenn es sich um die Auffassung des obigen elektrochemischen Grundgesetzes handelt; denken wir uns die elektrischen Fuida als continuirlich, so bleibt es völlig unerklärlich, warum die verschiedensten Elemente und Radicale immer gerade eine ganz bestimmte Elektricitätsmenge bilden oder gerade ein Multiplum davon. Sofort aber wird es zur nothwendigen Consequenz, wenn wir die Elektricität als in einzelne Atome von unveränderlicher Grösse uns getheilt denken.

Hierdurch gelangen wir also so zu sagen zu einer chemischen Theorie der Elektricität, die wir zum Schluss noch kurz betrachten wollen. Ausser den bekannten chemischen Elementen hätten wir zwei neue anzunehmen, gebildet von den positiven und negativen Elektronen, wie man diese elektrischen Atome bezeichnet; diese Elemente sind chemisch einwerthig, d. h. die Valenz eines einwerthigen Elementes kann durch ein, die eines zweiwerthigen Elementes durch zwei Elektronen gesättigt werden u. s. w. Das Atomgewicht dieser Elektronen kann für die Zwecke der Chemie verschwindend klein angesehen werden. Forschungen auf ganz anderen Gebieten, die in erster Linie das Studium der Kathodenstrahlen betrafen, und worüber Herr Dr. Kaufmann, ein sehr erfolgreicher Bearbeiter dieses Gebietes, am letzten Mittwoch von dieser Stelel aus berichtet hat, haben es übrigens wahrscheinlich gemacht, dass das Atomgewicht der negativen Elektronen etwa 1/2000 des Atomgewichts des Wasserstoffs ist. Freilich ist die Frage noch offen, ob es sich hier um eine wirkliche Masse im gewöhnlichen Sinne handelt. Jedenfalls aber ist diese Grösse in der That bei chemischen Arbeiten verschwindend, insofern als etwaige durch die negativen Elektronen bedingte Gewichtsveränderungen innerhalb der unvermeidbaren Fehler auch der genauesten bisherigen chemischen Analysen liegen. Ob die positiven Elektronen, wie nicht unwahrscheinlich, das gleiche Atomgewicht haben, wissen wir nicht, weil man an diesen die den Kathodenstrahlen entsprechende Erscheinung noch nicht aufgefunden hat. Die Eigenthümlichkeiten, welche diesen beiden Elementen zwischen allen anderen eine ganz entschiedene Ausnahmestelle verleiht, sind die von ihnen ausgehenden eigenartigen Kraftwirkungen, die von der Newton'schen Attraction der gewöhnlichen Elemente und Verbindungen so vollkommen verschieden sind. Die Behandlung dieser Kräfte bildet eben den physikalischen Theil der Elektricitätslehre, die seit Coulomb und Ampère mit der Erforschung der Gesetze jener Kräfte sich beschäftigt hat. Dasjenige, was für die Chemie in Betracht kommt, nämlich die elektrolytische Leitung, die elektrolytische Zersetzung und die galvanische Stromerzeugung, habe ich bereits im ersten Theile meines Vortrages besprochen, und wir haben dabei constatirt, dass sich diese Erscheinungen in der That aus den elektrischen Grundgesetzen heraus anschaulich deuten lassen.

Wenn man fragt, warum denn diese beiden Elemente von polar entgegengesetztem Charakter eine solche Ausnahmestellung im Vergleich zu allen übrigen einnehmen, so kann man diese Frage allerdings mit gleichem Recht aufwerfen, aber ebensowenig beantworten, wie die: Warum ist das Chlor gerade das Chlor, warum hat das Natrium gerade die Eigenschaften des Natriums u. s. w. Die Eigenschaften der Elemente können wir zur Zeit eben nicht ableiten, wir müssen sie einfach nehmen, wie sie sind. - Uebrigens erinnert das gegenseitige Verhältniss der positiven und negativen Elektronen ein wenig, aber auch nur ein wenig, an das Verhältniss zwischen zwei optischen Isomeren.

Die Ionen sind, wie schon bemerkt, als chemische Verbindungen zwischen gewöhnlichen Atomen und Radicalen und den Elektronen aufzufassen, und zwar sind es gesättigte chemische Verbindungen. Wenn wir nämlich etwa im Chlornatrium das Natriumatom durch ein negatives Elektron substituiren, so bekommen wir das negative Chlorion, wenn wir das Chloatom durch das positiv geladene Elektron ersetzen, so bekommen wir das positive Natriumion. Man sieht also, dass die Ionen sich vollständig in das Schema der Substitutionstheorie einordnen, sobald wir die atomistische Auffassung der Elektricität zu Hülfe nehmen. Gleichzeitig wird auch der gewaltige Unterschied zwischen freiem Chlor und dem Chlorion, zwischen freiem Natrium und dem Natriumion offenbar; denn genau so, wie das physikalische Verhalten des freien Chlors und des freien Natriums ganz anders ist, als wenn diese Elemente in einer chemischen Verbindung, wie etwa Chlornatrium, vorhanden sind, so wird ihr Verhalten durchgreifend durch die Verbindung mit den elektrischen Elementaratomen, d. h. durch den Uebergang in den Ionenzustand geändert.

Dass sich übrigens die Ionen in der That wie gesättigte Verbindungen verhalten, geht unter Anderem auch aus folgender Thatsache hervor. Ausser den chemischen Verbindungen, die sich dem Schema der Valenztheorie unterordnen, giebt es auch sogenannte Molecülverbindungen; um hierfür ein Beispiel zu nennen, so vermag das Platinchlorid sechs Ammoniakmolecüle zu addiren. Es ist nun sehr bemerkenswerth, dass die Ammoniakmolecüle durch Ionen ersetzbar sind, wie die Forschungen von Werner gezeigt haben, und dass also auch die Ionen in der Art und Weise, Molecülverbindungen zu bilden, sich vollkommen den gewöhnlichen Verbindungen an die Seite stellen.

Es liegt nun die Frage nahe, ob sich die Substitution im Chlornatrium nicht noch einen Schritt weiter führen, d. h. ob sich nicht gleichzeitig das Natriumatom und das Chloratom durch ein negatives und ein positives Elektron substituiren lässt; das Resultat dieser Substitution wäre also eine Verbindung aus einem positiven und einem negativen Elektron. Wir hätten so ein elektrisch neutrales, masseloses oder wenigstens so gut wie masseloses Molecül. Ueber diese Verbindung und über die Rolle, die sie vielleicht in chemischen und electrochemischen Processen spielt, wissen wir noch nichts Bestimmtes. Sollten diese Verbindungen wirklich existiren, und sollte es uns gekingen, ein Reagens darauf zu finden, um mich der chemischen Ausdrucksweise zu bedienen, so würde sich uns vielleicht eine neue Welt von Erscheinungen erschliessen; die Vermuthung scheint mir jetzt schon unabweisbar, dass im Verhalten des Lichtäthers, jenes bis heute noch völlig hypothetischen Agens, diese Molecülgattung eine Rolle spielt.

Auf Grund dieser Anschauung können wir uns nun leicht ein klares Bild über das Verhältnis von dualistischer zu unitarischer Anschauungsweise verschaffen. Die verschiedenen Elemente (bez. Radicale) besitzen zu den positiven und negativen Elektronen verschiedene chemische Affinität; diejenigen Elemente, die zum positiven Elektron eine ausgesprochene Verwandtschaft zeigen, bilden die positive Gruppe von Elementen; entsprechend besitzen die negativen Elemente eine Verwandtschaft zum negativen Elektron. Ausserdem besitzen die verschiedenen Elemente unter einander eine chemische Affinität, die nicht polaren Charakters ist. Dementsprechend können, ohne dass die Elektronen eine Rolle spielen, zwei Atome eines Elementes eine feste chemische Verbindung eingehen; ich erinnere nur an die Festigkeit, mit der sich zwei Wasserstoffatome oder zwei Stickstoffatome unter einander zu einem Molecül vereinigen. Dasselbe gilt von vielen Verbindungen der Metalloide unter einander, wie Chlorjod, Schwefelphosphor u. s. w. Ebenso vermögen die Metalle unter einander zahlreiche Verbindungen einzugehen, bei denen wir ebenfalls gar keinen Anlass haben, auf eine Betheiligung von Elektronen zu schliessen. Der Kohlenstoff insbesondere, der einen Uebergang zwischen den ausgesprochen positiven und den ausgesprochen negativen Elementen bildet, vermag mit beiden Kategorien von Elementen zu reagiren, und da auch hier die Elektronen aus dem Spiele zu bleiben scheinen, so wird die Möglichkeit einer rein unitarischen Auffassungsweise bei den Kohlenstoffverbindungen verständlich.

Sobald aber ein positives und ein negatives Element mit einander reagiren, tritt die Fähigkeit der Ionenspaltung auf, d. h. mit diesem chemischen Processe ist eine Addition oder Aufspaltung eines masselosen elektrisch neutralen Molecüls verbunden; es scheint mir sehr bemerkenswerth, dass diese Vorgänge mit einer viel durchgreifenderen Veränderung des gesammten Verhaltens verbunden sind, als diejenigen, bei denen eine Mitwirkung der Elektronen nicht stattzufinden scheint; denn während die Verbindungen der Metalle unter einander deutlich metallischen Charakter bewahren und die Verbindungen zwischen Metalloiden ebenfalls deutlich an das Verhalten ihrer Bestandtheile erinnern, entsteht offenbar etwas ganz Neues und Eigenartiges, wenn ein Metall mit einem Metalloide reagirt. Eine Substanz wie Chlornatrium weist gegen ihre Componenten die denkbar grössten Verschiedenheiten auf, wie auch bei der Bildung solcher Verbindungen offenbar ganz besonders mächtige chemische Kräfte mitwirken.

Natürlich scheint es nicht unmöglich, dass auch bei den nicht polaren Wechselwirkungen elektrische Kräfte im Hintergrunde sich befinden, wie man ja auch jetzt schon vielfach hofft, die Newton'sche Attraction ähnlich, wie es mit der Optik gelang, auf elektrische Phänomene zurückführen zu können. Das ist aber doch lediglich Sache der Zukunft; zur Zeit wird man gut daran thun, die Kräfte polarer Natur sorgfältig von den unitarischen zu trennen.

Das hier dargelegte Schema lässt die Möglichkeit vorhersehen, dass ein Element oder Radical mit einem positivem oder negativen Elektron zu reagiren vermag, ohne dass gleichzeitig ein anderes Element von damit entgegengesetzt polarem Charakter sich des freigewordenen Elektrons bemächtigt. Wenn dies geschähe, so würde das freie Elektron in Analogie zu den gewöhnlichen chemischen Processen mir einem bestimmten Dissociationsdruck in Freiheit gesetzt werden, der sich in der lebendigen Kraft des fortgeschleuderten freien Elektrons äussern würde. Vielleicht verdanken die Becquerel-Strahlen einem solchen chemischen Processe ihre Entstehung; da man auch hier bisher nur das Auftreten freier negativer Elektronen beobachtet hat, so gewinnt es überhaupt den Anschein, als ob die positiven Elektronen viel schwieriger zu isoliren, d. h. viel fester von den Elementen metallischer Natur gebunden seien, als die negativen Elektronen von den Metalloiden.

Bei dem Versuch, uns mit den wichtigsten elektrischen Experimentalmethoden der chemischen Forschung bekannt zu machen, sind wir unwillkürlich auf die Frage nach der Natur der chemischen Kräfte überhaupt und dem Wesen der Elektricität selber zu sprechen gekommen, und damit geriethen wir dann in ein mehr speculatives Fahrwasser, wobei das Festland der unmittelbaren Erfahrung und Messung unseren Blicken zeitweilig entschwand. Bleibenden Bestand haben in unserer Wissenschaft ja zunächst nur die Ergebnisse des Experiments und die daraus abgeleiteten Versuchsmethoden; so lange es eine Naturforschung giebt, wird man wohl nicht mehr aufhören, chemische Verbindungen durch den galvanischen Strom zu zersetzen und die elektrische Leitfähigkeit von Lösungen zu messen. Physikalische und chemische Theorien hingegen kommen und vergehen, wenn auch sie vielleicht doch nicht ganz so vergänglich sind, wie man bisweilen annimmt. Das Wort eines römischen Dichters:

Nec perit in toto quicquam, mihi credite, mundo,
Sed variat faciemque novat. (Ovid)
(In der weiten Welt geht sicherlich nichts verloren, es verändert sich nur und bekommt ein neues Gesicht),

ein Wort, in welchem wir wohl eine der ersten Vorahnungen der modernen naturwissenschaftlichen Sätze über die Erhaltung der Substanz erblicken können, dies Wort gilt vielleicht auch für die naturwissenschaftlichen Hypothesen und Theorien, durch die eine Fülle von Erscheinungen der Aussenwelt der strengen Logik einer einfachen Grundanschauung unterworfen wird; auch die Kraft solcher Theorien ist, wie es scheint, unverwüstlich. So glaube ich auch, dass die zeitweise in den Hintergrund gedrängte oder gar verachtete Theorie der substantiellen Natur der Elektricität nicht völlig verschwinden wird, so oft sie noch in veränderter Form und in neuem Gewande vor das Forum naturwissenschaftlicher Discussion treten möge. Gewiss ist der Gedanke fern abzuweisen, dass man im Besonderen in der Helmholtz'schen Auffassung einer atomistischen Structur der Elektricität es bereits mit einem fertigen Lehrgebäude zu thun hat; trotzdem habe ich es versucht, diese Theorie, die wir auch kurz als chemische Theorie der Elektricität bezeichnet haben, in ihren Consequenzen darzulegen und vielleicht in einigen Punkten weiterzubilden; denn es handelt sich hier meiner Ueberzeugung nach um eine Auffassung, die dem Jünger der Naturwissenschaft das bietet, was so recht sein tägliches Brod ist, nämlich neue Probleme und neue Anregung zum Weiterarbeiten.


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Revised 2003-12-14